Eine Geschichte mit Happy End

Sie saß da, beim Grillen in unserem Garten, wie noch einige andere. Es wurde geredet, gelacht, getrunken und gegessen. Sie schlug eine Art ‚Trinkspiel‘ vor, das viel mehr eine Art ‚Konversationsspiel‘ war: Diejenigen, die nah beieinander saßen, sollten der Reihe nach eine „Geschichte mit Happy End“ erzählen.

Als ich an der Reihe war fiel mir nichts ein. „Ich hab noch keine Geschichte mit Happy End“, antwortete ich.
Das war – und das ist bereits ein Erfolg – nicht negativ gemeint. Mir fiel einfach wirklich nichts ein, was in diese Runde gepasst hätte.

Am nächsten Morgen wierderum fiel mir eine gute Geschichte ein.
Mein Leben.

Das einzige Problem dabei: Es gibt noch kein ‚richtiges‘ Happy End – noch nicht.
Es ist in Arbeit.

So spielte ich im Kopf erneut die Szene des vergangenen Abends durch, mit einer kleinen Änderung: Ich erzählte.
Ich erzählte von den Ängsten vor dem Sterben, die mich als Kleinkind nach dem Tod meiner Großmutter verfolgten. Ich erzählte von den Albträumen, die mich heimsuchten;
Immer wieder das gleiche Schema: Ich, alleine, von meiner Familie getrennt und nicht in der Lage, ihnen zu folgen.

Dann erzählte ich von der Grundschulzeit, von meinen aufkeimenden Aggressionen, meiner inneren Wut, die ich nicht kontrollieren konnte.
Ich erzählte davon, dass jene Wut stärker wurde, dass sie mich zu dominieren drohte, dass sie zu dem wurde, was ich mittlerweile als ‚Hass‘ bezeichnen würde.
Jene Wut wurde gefährlicher, da ich stärker wurde.
Ich musste lernen, sie zu kontrollieren – und das tat ich, über Jahre hinweg.
Dann fing ich an, von der Zeit in der gymnasialen Mittelstufe zu erzählen.
Die Wut lernte ich immer besser zu kontrollieren, wenngleich sie stärker wurde.
Meine Ängste konnte ich ebenso besser kontrollieren, obwohl sie nicht weniger präsent waren.
Die Albträume suchten mich nicht mehr heim, weil ich lernte, meine Träume zu kontrollieren.
Eine Fähigkeit, die mir später, im Studium, wiederbegegnen sollte – und die ich bis dahin bereits verlernt haben würde.

Dann war die Oberstufe an der Reihe und ich erzählte von meiner Videospielsucht, meinem Übergewicht, meiner sozialen Isolation und der Mutation der Wut, die sich auf mich persönlich ausbreitete und nun ‚Hass‘ war. Ich erzählte von den vielleicht schlimmsten zwei, drei Jahren meines noch jungen Lebens, geprägt von Selbsthass und -Mitleid, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, beginnenden Alkoholismus‘ und eines dennoch sehr guten Abiturs.
Kurzum: Ich erzählte von der Ambivalenz meiner Existenz.
Nach außen hin gefestigt und erfolgreich, innerlich zerrissen und kurz davor, aufzugeben.
Immer wieder.

Ich erzählte davon, wie ich währenddessen abnahm: Weil der Hass zu groß und die Hoffnung vorhanden war, ihn damit lindern zu können.
Es half kaum.

Ich schilderte meinen Ansporn, der mir in der Schule half: Ich wollte besser sein als meine Schwester.
Weil sie nicht nur das ältere, sondern vor allem das gute, das fleißige Kind war.
Das Vorbild.
Es dauerte ein halbes Jahr und ich war besser als sie. Ich brauchte ein neues Ziel. Ich wollte einen NC von 1,..
Das nächste halbe Jahr verstrich und wieder erschien das Ziel als zu einfach.
Also wollte ich noch besser sein. Ich wollte das beste Abitur meiner Familie erreichen. Außerdem konkurrierte ich mit einem Freund, wer von uns besser sein würde.

Dann kamen die Abiturprüfungen – und ich drohte, zu verlieren.
Meine Vornoten waren nicht gut genug, weil ich zu oft zu faul war.
Ich brauchte im Schnitt 12 Punkte in den Abiturklausen – und schrieb 15, 14, 13 und 9.
Das Ziel war erreicht. Ich war stolz auf mich.
Für einen kurzen Moment.

Denn dann realisierte ich, dass es wertlos war. Es war zu schlecht für das, was ich studieren wollte und das wurde mir erst bewusst, als es zu spät war.
Der ‚Hass‘ wuchs ins Unermessliche, denn ich hatte versagt. Wieder einmal.

Ich flüchtete mich in Alkohol, peinigte mein Inneres und konnte es nach außen hin immer schwerer verbergen. Die Absage traf ein.
Ich war verzweifelt.
Ich ging trotzdem zu den Veranstaltungen und versuchte, mich einzuklagen.
Zwei Wochen lang.

Dann saß ich in der Vorlesung.
Noch immer ohne Zusage, wie auch einige andere Kläger.
Mein Handy vibrierte. Es war eine Nachricht von meiner Schwester.

„Du hast einen Brief von der Uni bekommen, soll ich ihn aufmachen?“

Mein Herz pochte. Mir wurde heiß, ich fing an zu schwitzen und ich konnte mich nicht mehr konzentrieren.
„Mach ihn auf“, schrieb ich.

Es vibrierte erneut. Dann noch mehrere Male.
Ich hatte Angst, ich wollte nicht erneut scheitern, nicht endgültig scheitern.
Die Vorlesung war vorbei, ich fuhr nach Hause, ohne von der Antwort zu wissen.
Sie machte die Tür auf, kam mir entgegen, nahm mich in den Arm.
„Glückwunsch“, sagte sie.

Ein Happy End – ein vorläufiges.

Dieser Tag war der Anfang eines bis heute andauernden Aufwärtstrends, der zwischenzeitlich abzubrechen drohte und den ich dennoch aufrechterhalten konnte.
Dank einer Person, die nicht weiß, wie wichtig sie in diesem Moment war.
Ich kämpfe wieder. Ich will wieder. Ich glaube wieder.
Das macht mich stark.

Ich werfe mir nicht mehr vor, was ich alles nicht schaffe, sondern konzentriere mich auf die Dinge, die ich geschafft habe – ich habe 15kg abgenommen, meine Videospielsucht überwunden, das beste Abitur meiner Familie erreicht, meinen Studienplatz bekommen, bisher gute Noten geschrieben und – noch bedeutender – ich bin in der Lage, meinen ‚Hass‘ zu kontrollieren.

Das Happy End ist in Arbeit – und es liegt in meinen Händen, es zu vollenden.

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